Eltern werden in verschiedenen Lehrbüchern der Kindererziehung stets dazu angehalten das moralische Empfinden ihrer Kinder zu stärken. Bereits ab dem zweiten Lebensjahr sind Kinder nach aktuellen Forschungsergebnissen in der Lage zu teilen, zu trösten und zu helfen, wenn sie die Möglichkeit dazu erhalten.Immer wieder tauchen in der Forschung im Rahmen der Entwicklungspsychologie Fragen auf: “Warum sind Kleinkinder in ihrem Denken häufig so Ich-bezogen? Hat der Mensch als Egomane das Licht der Welt erblickt?“ Lange Zeit ging man davon, dass diese Fähigkeit zum sozialen Miteinander in direktem Zusammenhang mit der kognitiven Reifung stehe. Heute kristallisiere sich jedoch heraus, dass die Empathie des Kindes eine entscheidende Rolle bei der moralische Entwicklung einnimmt.
Die ersten Ansätze von Empathie werden als spontane Reaktionen auf den Gefühlszustand anderer angesehen. Mütter kennen dieses Phänomen: Fängt ein Säugling am Spielplatz an zu weinen, stimmen andere Babys häufig mit ein. Es fällt ihnen in diesem Alter noch schwer, zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung zu differenzieren. Mit ca. 17 Monaten versuchen die Kleinkinder andere z.B. schreiende Kinder aktiv zu trösten. So versucht beispielsweise die dreijährige Susi ihre kleine weinende Schwester mit einem Keks aufzuheitern. Mit dem Alter von zwei bis drei Jahren wächst bei den Kindern der Wunsch in verschiedenen Alltagssituationen anderen helfen zu wollen. Die Kinder reifen in diesem Alter besonders in der Fähigkeit zwischenmenschliche Gefühle nachzuempfinden. So fühlt die kleine Susi mittlerweile wie enttäuschend es sich anfühlt im Kindergarten bei Turmbauen nicht mitspielen zu dürfen. Kinder sind also keineswegs Egomanen, sondern scheinen sich bereits im Laufe ihrer Entwicklung intuitiv an moralischen Werten zu orientieren, die weniger auf Vernunft als vielmehr auf einer angeborenen Fähigkeit zum Mitfühlen basieren.
Grundlegende Theorien zur kognitiven Moralentwicklung gehen auf die Psychologen Jean Piaget (1896-1980) und Lawrence Kohlberg (1927-1987) zurück. Piaget, der sog. “Pionier der Moralforschung“ beschreibt das „moralische Handeln in der Abhängigkeit von der altersbedingten Einsicht in ethische Prinzipien und Wertvorstellungen.“ Er deutet den Reifegrad und die Reflexionsfähigkeit als wichtige Meilensteine für das richtige Handeln. Im starken Kontrast dazu entwickelte der amerikanische Psychologe Kohlberg ein hierarchisches Stufenmodell der Moralentwicklung:
1. Stufe: Die Orientierung an Strafe und Gehorsam
Alter: bis 10 Jahre (Gerecht ist, was dem Gehorsam der Autorität entspricht. Das moralische Handeln orientiert sich an der Furcht vor Strafe oder dem Wunsch nach Belohnung)
2. Stufe: Die instrumentell-relativistische Orientierung
Alter: bis 13 Jahre (Gerecht ist, was mir Vorteile verspricht und Nachteile erspart. Das Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn prägen die zwischenmenschlichen Beziehungen)
3. Stufe: Die interpersonale Konkordanz
Alter: bis 16 Jahre (Gerecht ist, was sich positiv auf zwischenmenschliche Beziehungen auswirkt. Das moralische Handeln wird nach dem Prinzip “Ich möchte ein guter Mensch sein bestimmt)
4. Stufe: Die Orientierung an Gesetz und Ordnung
Alter: über 16 Jahre (Gerecht ist der, der seinen Pflichten nachkommt, Gesetze achtet und nach einem gemeinschaftlichen Wohlergehen strebt.)
5. Stufe: Die demokratisch-universale Gerechtigkeit
Alter: über 20 Jahre (Gerecht ist, was mehrheitlich beschlossen wurde. Gleichheit, Freiheit und die Würde des Menschen haben bei Konflikten oberste Priorität.)
6. Stufe: Ideale Gerechtigkeit
Diese Stufe wird nur von wenigen Menschen erreicht. Diese Ebene steht für die Ausrichtung an Idealen, die unabhängig von gesellschaftlichen und kulturellen Grenzen gelten.
Kinder mit zehn Jahren seien also nach Kohlberg noch nicht in der Lage, ethische Prinzipien zu differenzieren, sondern bestimmen ihr Handeln nur nach dem Lust- und Tauschprinzip. Seit Beginn der 90iger Jahre fanden Psychologen jedoch heraus, dass Kinder bereits im Alter von drei Jahren zwischen moralischen Verfehlungen (schlagen) und sozialen Konventionen (Jungs tragen keinen Nagellack) Unterscheiden können. Gerade der fünfjährige Lukas findet das Schlagen anderer Kinder nicht in Ordnung, weil es den Kindern doch weh tue.
Der Mechanismus über den diese moralischen Vorstellungen zustand kommen, ist also nicht nur auf den Verstand, sondern vielmehr auf das empathische Empfinden zurückzuführen. Es ermöglicht eigenes und fremdes Erleben miteinander zu verknüpfen. Das moralische Urteilsvermögen von Kindergartenkindern könnte also wesentlicher differenzierter angesehen werden. Moralische Ideale wurzelt demnach nicht nur in der Vernunft, sondern auch im Bereich der Gefühle. Den Eltern sollte deshalb bewusst sein, dass Kinder für eine gute moralische Entwicklung einerseits verständliche Regeln benötigen, andererseits sich aber an guten Vorbildern emotional orientieren.