Eltern berichten von Verzögerungen ihres Kindes in der motorischen Entwicklung und erhalten nach ausführlichen klinischen Untersuchungen die Diagnose „umschriebene motorische Entwicklungsstörung“. Nach medizinischer Empfehlung suchen die betroffenen Eltern häufig die Ergotherapie sowie andere therapeutischen Interventionen auf und hoffen dort auf eine Verbesserung der bestehenden Entwicklungsrückstände. Doch viele Eltern fragen sich: Was beinhaltet dieses Krankheitsbild, welche symptomatischen Erscheinungsbilder lassen sich bei den betroffenen Kindern erkennen?

TelefonkontaktDefinition: Die Entwicklungspsychologie spricht allgemein von Entwicklungsstörungen, wenn „ein Kind hinsichtlich seiner motorischen, sprachlichen, geistigen oder sozialen Fertigkeiten deutlich hinter dem Entwicklungsstand von Gleichaltrigen zurückbleibt oder entgegen dem normalen Entwicklungsverlauf bereits erworbene Fertigkeiten wieder verlernt hat.“

Die im ICD-10 unter F80-F89 zusammengefassten Störungen der Entwicklung haben im Allgemeinen folgende gemeinsame Merkmale:

  • Beginn im Kleinkindalter oder in der Kindheit,
  • enge Verknüpfung mit der Reifung des Zentralnervensystems und
  • ein stetiger Verlauf (ohne Remissionen oder Rezidive)

Eine weitere Differenzierung erfolgt in geistige und motorische Entwicklungsstörungen. Nach Angaben des ICD-10 ist das Hauptmerkmal einer umschriebenen Störung der motorischen Funktionen (F82) eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Entwicklung der motorischen Koordination, die nicht alleine durch eine Intelligenzminderung oder eine angeborene oder erworbene neurologische Störung erklärbar ist. Üblicherweise ist die motorische Ungeschicklichkeit verbunden mit einer Leistungsbeeinträchtigung bei visuell-räumlichen Aufgaben.

Ausschluss:

– Koordinationsstörung (R.27)

  • infolge einer Intelligenzminderung (F 70.79) oder einer diagnostizierbaren spezifischen neurologischen Krankheit (G00-G99)
  • Störungen des Ganges und der Mobilität ( Haltungs-/Bewegungsstörungen R.26)

Die Einteilung der Umschriebenen motorischen Entwicklungsstörungen erfolgt nach den diagnostischen Kriterien des ICD-10 in:

  • F.82.0 Umschriebene motorische Entwicklungsstörung der Grobmotorik
  • F.82.1 Umschriebene motorische Entwicklungsstörung der Fein- u. Graphomotorik
  • F.82.2 Umschriebene motorische Entwicklungsstörung der Mundmotorik
  • F.82.9 Umschriebene motorische Entwicklungsstörung nicht näher bezeichnet

Klinisches Erscheinungsbild: Kinder mit umschriebenen motorischen Entwicklungsstörungen zeigen ein „nicht altersgemäßes Bewegungsverhalten und sind in ihrer motorischen Gesamtentwicklung verlangsamt.“ Im Kindergarten- oder Grundschulalter wirken sie durch eine ungeschickte Feinmotorik, durch einen unflüssigen Bewegungsablauf und durch eine Hypotonie der Muskulatur bei alltäglichen Aktivitäten häufig „ungeschickt und unbeholfen.“

Diese Symptomatik führt im Alltag zu Schwierigkeiten:

  • beim Hüpfen und Balancieren machen sich Schwierigkeiten im Gleichgewicht bemerkbar
  • beim Werfen und Fangen von Bällen. Daher meiden diese Kinder meist Ballspiele, bei denen es auf Schnelligkeit, Geschicklichkeit und Gewandtheit ankommt.
  • beim Erlernen von Fahrradfahren, Schwimmen und Schlittschuh fahren fallen sie durch staksigen, plumpe Bewegungen und fehlende Geschmeidigkeit in den Bewegungen auf
  • beim Treppensteigen neigen die Kinder durch das ungeschickte Gangbild zu häufigen Hinfallen bzw. Fallenlassen von Gegenständen
  • beim Malen, Basteln, Puzzeln, Schuhbänder binden, Auf- und Zuknöpfen der Jacke sowie der Entwicklung der Handschrift machen sich Störungen der Feinmotorik besonders bemerkbar.

Ursachen: Angesichts der Komplexität der menschlichen Motorik und der zusätzlichen Bedeutung emotionaler Einflüsse können viele Ursachen für motorische Beeinträchtigungen verantwortlich sein. Eine genaue Ätiologie der umschriebenen motorischen Entwicklungsstörung ist wissenschaftlich nicht geklärt, wahrscheinlich handelt es sich aber um eine heterogene Gruppe von Ursachen.

  • eine familiäre Variante (sog.“ Mangel an motorischer Begabung“)
  • erhöhtes Risiko bei Kindern mit perinatalen Komplikationen (z.B. Frühgeborene)
  • leichte neurophysiologische Dysfunktionen und minimale neuroanatomische Veränderungen
  • spezifische Störungen im Bereich der Körper- oder Raumwahrnehmung
  • spezifische Störungen bei der Auswahl, Steuerung und Koordination der Bewegungen

Neben diesen Ursachen können unzureichende Lernerfahrungen am Zustandekommen motorischer Entwick-lungsstörungen beteiligt sein bzw. vorhandene Bewegungsprobleme verstärken. Demzufolge besteht bei Kindern, die primär unter Problemen beim Erlernen von Bewegungsabläufen oder an sensorischen Beeinträchtigungen leiden, die Gefahr, dass sich ihre schlechten motorischen Leistungen zusätzlich infolge eingeschränkter Bewegungserfahrungen weiter negativ entwickeln. Die Prognose von umschriebenen motorischen Entwicklungsstörungen wird als ungünstig angesehen, wenn diese in Kombination mit anderen Teilleistungsstörungen auftreten.

Die Motorik stellt zusammen mit der Wahrnehmung die Grundlage für die meisten höheren menschlichen Leistungen dar und ist für die Gesamtentwicklung des Kindes von entscheidender Bedeutung. Störungen der motorischen Fertigkeiten gehen daher oft mit weiteren erheblichen Beeinträchtigungen einher; sie engen nicht nur den Bewegungs- und Handlungsspielraum ein, sie hemmen es meist auch in seinen sozialen Aktivitäten und haben folglich negative Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl des Kindes. Es besteht häufig eine Komorbidität zu:

  • Hyperaktivität und anderen Verhaltensauffälligkeiten
  • Sprech- und Sprachstörungen
  • Aufmerksamkeitsstörungen

Die Prävalenz beträgt: (nach Steinhausen, H.-C. (2001). Entwicklungsstörungen des Kindes- und Jugendalters)

  • etwa 5% aller Vorschulkinder leiden unter motorischen Entwicklungsrückständen
  • der Anteil von Kindern mit motorischen Koordinationsstörungen beträgt etwa 5 bis 10 % nach Schuleingangsuntersuchungen in Bayern und Nordrhein-Westfalen
  • Jungen sind im Allgemeinen stärker bzw. häufiger von umschriebenen motorischen Entwicklungsstörungen betroffen. Das Verhältnis beträgt hierbei etwa 2:1