Mira kommt aus einer kinderreichen Familie und besitzt vier Geschwister. Natürlich, so berichtet sie, gab es in der Vergangenheit immer wieder Momente, in denen ich mich über meine ältere Schwester geärgert habe oder mein kleiner Bruder mich gestört hat. Dennoch schätzt die heute 23 jährige ihr Geschwister und deren Existenz sehr. „Sie geben mir Sicherheit, auch wenn ich meine Geschwister nicht immer regelmäßig sehe bzw. treffe, spüre ich eine tiefe Verbundenheit und weiß, dass sie immer für mich da sind.“

TelefonkontaktViele Menschen können Miras emotionale Verbundenheit zu ihren Geschwistern nachvollziehen und so manches Einzelkind empfindet bei diesen Zeilen Wehmütigkeit. Im Allgemeinen sind Geschwister “Primärbeziehungen“. Sie entspringen in den Kleinkindtagen und zählen nach den Aussagen von Entwicklungspsychologen zu den dauerhaftes Bindungen. Es gibt durch die gemeinsame Herkunft und das meist ähnliche Repertoire an Erfahrungen keine Nichtbeziehung unter Geschwister. Ein große Zahl an Erfahrungen, Erlebnissen und der tägliche Austausch bilden einen gemeinsamen Fundus an Erinnerungen.

Insgesamt stehen Geschwister für Vertrautheit, Nähe, Liebe, aber auch für Konkurrenz und Hass. Psychologen sprechen heute von einer entscheidenden Prägung durch Geschwisterbeziehungen auf die geistige Entwicklung des Menschen. Der Evolutionspsychologe Frank J. Sulloway sprach in diesem Zusammenhang „von einem auffälligen Kontrast zwischen Erstgeborenen und den jüngeren Geschwistern. So erwähnte er in einem Artikel in der Zeitschrift Gehirn und Geist „während Erstgeborene meist zu Gehorsam und angepassten Verhalten neigen, seien später Geborene viel öfter […] auf Konfrontationskurs zu den Eltern und den Rest der Familie aus.“ Des Weiteren spricht Herr Sulloway von einer „individuellen Nischenfindung“ eines jeden Kindes, wodurch es lernt mit einer bestimmten Rolle emotionale Bedürfnisse innerhalb der Familie zu befriedigen.

Auch die 23 jährige Mira erinnert sich an die aufgeschlossene und heitere Art ihrer älteren Schwester Tanja. Als Schulkind blieben ihr dabei so zwei Möglichkeiten, um die Aufmerksamkeit und Anerkennung der Eltern zu erhaschen. Entweder Mira steigerte derartigen Verhaltensweisen ihrer älteren Schwester mit noch mehr Charme und Fröhlichkeit, oder sie nahm eine andere Rolle ein, zum Beispiel die der ruhigen und zurückgezogenen Schwester. Auch in der späteren Berufswahl differenzieren sich Geschwister nicht selten. So studierte Mira Politikwissenschaften, während ihre ältere Schwester Tanja durch ihr handwerkliches Geschick den Beruf der Goldschmiedin erlernte. Für Eltern sind derartige unterschiedliche Verhaltensweisen und berufliche Wertegänge meist nur schwer verständlich, da sie doch alle Kind gleich erzogen hätten.

Fachleuten bezeichnen diese Abgrenzung als „Deindentifikation“ Diese angesprochenen Auseinanderentwicklung von Geschwister beruht dabei weniger auf genetisch bedingte oder angeborene Fähigkeiten, sondern vielmehr „aus der Kombination aus persönlichem Temperament und dem Drang, als eigenständige Persönlichkeit anerkannt zu werden“ (nach Sulloway).

Viele Entwicklungspsychologen stellten sich in diesem Zusammenhang die Frage: Welche Vor- und Nachteile bieten das Aufwachsen mit Geschwister im Gegensatz zu den Entwicklungsbedingungen von Einzelkindern. In der Fachzeitschrift Gehirn und Geist widerlegt die Forschung früher vermutete Entwicklungsnachteile von Einzelkindern. Kinder, die ohne Geschwister aufwachsen haben dabei nicht weniger oder mehr Probleme in der Kindheit und Pubertät als Menschen mit Geschwister. Sie pflegen im Schnitt weniger soziale Kontakte, diese jedoch intensiver. Einzelkinder kommen durch frühe Übernahme von Eigenständigkeit meist mit dem Alleinsein besser zurecht, erleben jedoch familiäre Brüche intensiver. Insgesamt bietet die Familie ein wichtiges „Trainingsfeld für zwischenmenschliche Beziehungen“.

Die Evolutionspsychologen gehen dabei von zwei wesentlichen Aufgaben der Heranwachsenden aus. Auf der einen Seite entwickelt jeder eine eigene bzw. individuelle Persönlichkeit (Individuation) und auf der anderen Seite lernt bzw. pflegt der Mensch vielfältige Beziehungen zu seinen Mitmenschen (Sozialisation).