Als ein leicht erlernbares Entspannungsverfahren kann die progressive Muskelentspannung (auch: progressive Muskelrelaxation (kurz: PMR) nach Edmund Jacobson nicht nur als Ausgleich zum stressigen Alltag dienen, sondern auch darüber hinaus therapeutisch wirken. Edmund Jacobson (1888-1983) war ein US-amerikanischer Arzt und Physiologe, der Anfang des 20. Jahrhunderts den Zusammenhang zwischen übermäßiger muskulärer Anspannung und unterschiedlichen körperlichen und seelischen Erkrankungen nachweisen konnte.

Das von ihm begründete Entspannungsverfahren wird in der Regel nach einer gesprochenen Anleitung und im Idealfall mit geschlossenen Augen in einer angenehmen Rückenlage mit neben dem Körper liegenden Armen durchgeführt. Dazu können ein flaches Kopfkissen, Kissenrollen zur Unterlagerung der Knie und ggf. weitere Lagerungskissen für die Arme zur Hilfe genommen werden. Wenn diese Position nicht beschwerdefrei einzunehmen ist, kann die Progressive Muskelentspannung auch im Sitzen mit Anlehnen an eine Rückenlehne durchgeführt werden. Der Übungs- bzw. Behandlungsraum sollte möglichst geräuscharm und angenehm temperiert sein. Nehmen Sie sich dafür anfangs etwa 20-30 Minuten Zeit.

Nach einer Einleitung zur Entspannungsvorbereitung, etwa durch das Richten der Aufmerksamkeit auf den langsamen und regelmäßigen Atemfluss, werden nacheinander Muskelgruppen aktiv angespannt wie beispielsweise durch Ballen der Fäuste. Die Anspannung wird für einige Sekunden gehalten und der Bereich anschließend deutlich länger entspannt und gelockert. So wird nach und nach die Wahrnehmung systematisch auf wichtige Muskelgruppen des Bewegungsapparates gelenkt. Es kommt dabei nicht darauf an, die Muskeln stark anzuspannen, sondern nur darauf, den Unterschied zwischen Anspannung und Entspannung deutlich zu merken. Ziel ist es, durch gesteigerte Wahrnehmung die Muskelanspannung zu senken und einen Ruhezustand bzw. Entspannung herbeiführen zu können. Vielleicht spüren sie ein angenehmes Kribbeln, der Körperteil wird warm, fühlt sich schwerer oder ganz leicht an, da Entspannungszustände individuell unterschiedlich wahrgenommen werden. Nach vollständigem Durchgehen der systematischen Übungsfolge können Sie einige Zeit den Entspannungszustand bewusst wahrnehmen bevor Sie durch sich Räkeln, Gähnen, Öffnen der Augen und langsames Aufrichten aus der Tiefenmuskelentspannung zurückkehren. Anschließend werden ggf. auch unangenehme Wahrnehmungen und das Ausmaß der erlebten Entspannung möglichst offen besprochen. Eine Auswertung im Gespräch erhöht den positiven (therapeutischen) Effekt.

Sie können die Progressive Muskelentspannung in der Gruppe oder in Einzelsetting in Begleitung von ausgebildeten Entspannungstrainern, im Rahmen einer therapeutischen Intervention bei Ergo- oder Psychotherapeuten, oder möglicherweise auch mit Partnern, Freunden oder Verwandten erlernen, die ruhig und mit ausreichenden Pausen eine geeignete Anleitung für sie sprechen. Alternativ können Sie auch elektronische Aufnahmen (CDs oder ausgewählte Audiodateien im Internet) einspielen. Bei regelmäßiger Durchführung werden Sie nach der kurzen Anspannungsphase immer besser lernen, die entsprechende Muskelgruppe zu entspannen und Kurzversionen erlernen, die sich noch besser eigenverantwortlich in den Alltag integrieren lassen.

Die therapeutische Wirksamkeit von Progressiver Muskelentspannung für Menschen mit unterschiedlichen vor allem neurologischen und psychiatrischen Krankheitsbildern aber auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen (insbesondere Bluthochdruck, Hypertonie) sowie manchen Schmerzerkrankungen ist wissenschaftlich belegt. Laut dem Cochrane Institut ist Progressive Muskelentspannung bei Menschen mit leichter bis mittelschwerer Depression zwar nicht so wirkungsvoll wie Psychotherapie, kann aber zur ersten Linderung der Symptome beitragen . Für von Multipler Sklerose betroffene Menschen gibt es wissenschaftliche Nachweise über die Verringerung der physischen und kognitiven Ermüdbarkeit, Verbesserung von Schlaf- und allgemeiner Lebensqualität (auf Englisch). Hier können Entspannungsverfahren bei Anzeichen von Ermüdung sinnvoll die Ergotherapie integriert werden.

Progressive Muskelentspannung führt zu verbesserter Körperwahrnehmung und Tonus-(Muskelspannungs-)regulation und eignet sich somit auch für viele Menschen die nach Schlaganfällen von Hemiplegie (Halbseitenlähmung) betroffen sind. Für die Besonderheiten hemiplegischer Patienten wird das Entspannungsverfahren abgeändert, um einer vermehrten Spastik entgegenzuwirken. Bewegungen, die eine Beugung der Hände, Arme und Beine beinhalten wie auch die Hebung des Kopfes sollte vermieden werden. Drehbewegungen des Kopfes dürfen nur zur gelähmten Seite hin erfolgen. Neben dem Erlernen einer Selbstentspannungstechnik wird die Wahrnehmungsfähigkeit für die gelähmte Körperseite und deren Integration in das Körperschema und das Selbstbild des Patienten unterstützt.

Somit trägt das Erlernen des Entspannungsverfahrens zu gesundheitlicher Prävention durch Sensibilisierung für körperliche, seelische und geistige Vorgänge sowie verbesserte Wahrnehmung angenehmer Körperempfindungen bei. Sie kann helfen, Alltagsbelastungen erfolgreicher zu bewältigen und ein gesunderhaltendes Gegengewicht zu übermäßiger körperlicher und seelischer Anspannung schaffen sowie Selbstverantwortung vermitteln. Vorsicht ist jedoch unter anderem bei Menschen mit akuten Psychosen, Demenzen und bei Herzinsuffizient geboten. Im Zweifel sollten sie den Rat des behandelnden Arztes einholen.

Insgesamt ist die Progressive Muskelentspannung als bereits häufig erprobtes und bezüglich der klinischen Wirksamkeit intensiv untersuchtes Entspannungsverfahren gut in der (Ergo-)Therapie und zur Gesundheitsförderung anwendbar.

Ich hoffe, ich konnte Ihr Interesse für dieses Entspannungsverfahren und seine Einsatzmöglichkeiten wecken.

Mit freundlichen Grüßen | Birthe Schmidt | Dr. Frank & Partner Berlin