Dass das Erlernen von Lesen und Schreiben nicht einfach ist, können sich noch viele Erwachsene in Erinnerung rufen. Auch im Erwachsenenalter gibt es noch die „guten“ und die „schlechten“ Leser. Dies liegt häufig daran, ob sich in den ersten Klassen beim Lesen und Schreiben eine Automatisierung eingestellt hat.
Nicht nur im Fach Deutsch ist eine Automatisierung notwendig, um etwas mit einer gewissen „Leichtigkeit“ zu bewältigen. Auch bei jeglichen Sportarten ist ein automatisiertes Handeln für den Erfolgt von großer Wichtigkeit. Spielt ein Kind z.B. Fußball, so ist es notwendig, dass es seine Aufmerksamkeit beim Sturm auf das Tor richtet, um dieses zu fokussieren und anzuzielen. Es hat also gar keine Zeit mehr, bewusst darüber nachzudenken, welche Bewegungen seine Beine ausführen müssen, um genug Schwung zu entwickeln und den Tritt gegen den Ball zu koordinieren.
Eine Automatisierung findet aber nur durch Übung statt. Spielt ein Kind das erste Mal Fußball, so richtet es seine volle Aufmerksamkeit auf den Ball, Mitspieler, mögliche Regeln oder die Richtung, in das es schießen soll, werden erst mal unzureichend wahrgenommen.
Betrachten wir nun den Prozess des Lesenlernens. In der ersten Klasse richtet es seine ganze Aufmerksamkeit auf einen einzelnen Buchstaben. Auch wenn ein ganzes Wort gelesen werden soll, kann das Gehirn nur einen Buchstaben erfassen. Jeder einzelne Buchstabe wird dann im Anschluss zusammengesetzt um ein Wort lesen zu können. Umso länger das Wort, desto länger dauert das Lesen. Erst wenn dieser Prozess des Lesens ins Langzeitgedächtnis verlagert wird, beginnt das Kind mehrere Buchstaben gleichzeitig zu erfassen. Das Gehirn kann ein Wort erkennen, ohne jeden einzelnen Buchstaben einzeln interpretieren zu müssen. D.h. auch lange Worte werden genauso schnell wie kurze Worte gelesen, da die Gesamtheit des Wortes vom Gehirn erfasst werden kann. Diesen Prozess – nicht mehr bewusst über jeden einzelnen Schritt bzw. Buchstaben nachdenken zu müssen – nennt man Automatisierung. In der zweiten Klasse sollte ein „guter Leser“ ca. 4 Buchstaben gleichzeitig wahrnehmen und interpretieren können.
Warum ist die Automatisierung so notwendig?
Untersuchungen haben gezeigt, dass ein Kind, das den Leseprozess nicht automatisiert hat, für ein langes Wort sehr viel Zeit benötigt, um dies zu lesen. Jeder Buchstabe muss einzeln erfasst werden. Dies kostet sehr viel Aufmerksamkeit und Energie, sodass das Lesen mühsam und anstrengend bleibt. Dadurch frustrieren viele Kinder. Erfolgt eine Tätigkeit (egal ob Lesen oder Fußball) automatisiert, so muss das Gehirn deutlich weniger Aufmerksamkeit aufbringen. Dadurch ist das Kind offen für weitere parallele Abläufe (z.B. dem Erfassen des Sinns des Textes). Nur wenn das Gehirn mehrere Buchstaben erfasst, kann es sich flüssig durch den Text tasten. Es wird beim Lesen eines Wortes bereits das nachfolgende Wort (wenn auch nicht scharf) erfasst, um es nach seiner Länge und Struktur zu analysieren. Das Gehirn arbeitet, kurz gesagt, effektiver und schneller, es werden weniger Gehirnzellen benötigt, wodurch deutlich weniger Anstrengung für das Lesen aufgebracht werden muss.
Eine große Rolle (ähnlich wie auch beim Beispiel des Fußballspielens) spielt dabei auch die Automatisierung der Augenbewegungen. Diese laufen zwar unbewusst ab, die Geschmeidigkeit, mit der die Augenmuskulatur sich über den Text tastet, wie groß die Sprünge sind, mit der das Auge von Wort zu Wort hüpft, ist ausschlaggebend dafür, wie schnell das Auge das fokussierte Wort wahrnehmen kann. Wird dieser Bewegungsablauf im Kindesalter nicht automatisiert, so ist auch im Erwachsenenalter häufig eine Schwierigkeit im Lesetempo zu erkennen. Eine Studie von Cunningham u. Stanovich (1997) konnte zeigen, dass ein großer Zusammenhang zwischen der Lesefähigkeit in der ersten Klasse und der Lesemenge in der elften Klasse besteht.