Der erste Schultag stellt häufig für die ganze Familie eine große Stresssituation dar. Besonders bei Erstklässlern herrscht Überforderung und Unsicherheit, sowohl bei Eltern, als auch bei den Kindern. Schließlich wünschen sich alle Beteiligten, dass der Tag möglichst „perfekt“ verläuft. Mit besonders großer Spannung warten die Familien auf das Kennen lernen mit der Lehrerin. Wird sie sympathisch sein? Nett und verständnisvoll gegenüber den Kindern?
Bei vielen Kindern, die während ihrer Kindergarten- und Vorschulzeit Defizite im Entwicklungsverlauf zeigten, sind die Eltern meist noch angespannter. Durch die gemachten Erfahrung besteht häufig die Befürchtung, dass auch während der Anfangszeit in der Schule Schwierigkeiten auftreten können. Wie geht man also am besten damit um?
Ein noch weit verbreitetes Phänomen in Institutionen ist die Stigmatisierung von Kindern. Unter Stigmatisierung wird der Prozess verstanden, bei den Personen, eine oder mehrere andere Personen, zu einer bestimmten Kategorie zuordnen. Das bedeutet, dass das soziale Umfeld eines Kindes (hier z.B. die Lehrerin oder die Mitschüler) einem Kind eine bestimmte Rolle oder Position im Klassenverband zuschreibt. Dem Kind werden ganz bestimmte Verhaltensweisen zugeordnet. Selbst, wenn das Kind diese nicht mehr zeigt, behält es seinen „Stempel“. Das ist auch der Grund, warum viele Eltern nicht offen mit Lehrern sprechen.
Ein Beispiel: Leon (7 Jahre) wird dieses Jahr eingeschult. Im Kindergarten zeigte er häufig große Schwierigkeiten in sozialen Interaktionen. Reagierte bei Konflikten impulsiv und aggressiv. Obwohl er dieses Verhalten bereits ablegen konnte ist er häufig sehr unruhig und könne sich nur kurz konzentrieren. Frau S., die Mutter von Leon, ist sich unsicher. Soll sie der Lehrerin von Leons Vorgeschichte erzählen? Es könnte schließlich passieren, dass die Lehrerin nach dem Gespräch Leon beginnt zu stigmatisieren. Sie achtet nun ganz genau auf sein Verhalten. Kann er sich zu Beginn der Schulzeit nur schwer ruhig auf den Stuhl halten ist das für die Lehrerin bereits die erste Bestätigung. Treten dann Konflikte auf, in denen Leon verwickelt ist, könnte die Lehrerin ihn genau die negativen Eigenschaften fest zugeschrieben haben, die die Mutter beschrieben hat. Leon bekommt von ihr die Rolle des „Unruhestifters“ zugeschrieben.
Es könnte jedoch auch ganz anders kommen. Die Mutter erzählt der Lehrerin von seinen Schwierigkeiten. Daraufhin wählt die Lehrerin ganz gezielt einen reizarmen Sitzplatz aus. Leons Tischpartner wird ein ruhigerer Junge, der positiv auf Leon einwirkt. Bei Konflikten kann die Lehrerin Leon zu Beginn noch unterstützen, bis er sich selbst gut in den Klassenverband eingefügt hat.
Erzählt Frau S. der Lehrerin nicht von der Vorgeschichte, kann es genauso gut sein, dass sich Leon schnell in der Schulsituation zurechtfindet. Dass er viel Spaß dabei empfindet und die Konzentrationsschwierigkeiten gar nicht erst auftreten. Ebenso gut kann es möglich sein, dass die neue Situation eine Überforderung hervorruft und Leons früher bestehende Schwierigkeiten erneut zum Vorschein bringt.
Frau S. wird sicher noch viele Vor- und Nachteile bei jeglicher Entscheidung finden. Egal, wie sich die Eltern am Ende entscheiden, sollte berücksichtigt werden, dass das Thema der „Stigmatisierung“ aktueller denn je ist. Hervorgerufen wird dieses Phänomen besonders durch sogenannte „Modediagnosen“ wie „AD(H)S“ oder „Hochbegabung“. Distanzieren Sie sich von solchen Aussagen, wenn die Lehrerin jene Diagnose mit in ein Elterngespräch einfließen lässt. Nur ein geschulter Psychiater darf nach eingehender Testung eine Diagnose stellen.
Die beste Empfehlung wird wohl sein, als Elternteil möglichst selbst entspannt mit der neuen Situation umzugehen. Lernen Sie die Lehrerin kennen und entscheiden Sie dann. Viele Eltern warten bis zum ersten Elterngespräch ab, dieses bringt meistens eine guten Eindruck darüber, wie die Lehrerin weitgehend objektiv ohne Vorwissen die Fähigkeiten und die Persönlichkeit des Kindes einschätzt.